BOYHOOD

PÖNIs: (5/5)

„BOYHOOD“ von Richard Linklater (B + R; USA 2002–2013; K: Lee Daniel, Shane F. Kelly; 163 Minuten; deutscher Kino-Start: 05.06.2014); natürlich reden wir viel über Filme. Private Klassiker, die uns geprägt haben und immer wieder und weiterhin für regen Gesprächsstoff sorgen. Für mich ist und bleibt EIN Projekt in der langen Betrachtungsgeschichte von FILM immer präsent. Dabei handelt es sich um die einzigartige, fast 50 Jahre andauernde Langzeit-Dokumentation über die „KINDER VON GOLZOW“. Eingefangen, begleitet und kommentiert von BARBARA und WINFRIED JUNGE. 18 Menschen aus dem brandenburgischen Golzow im Oderbruch wurden in 20 Filmen von 1961 bis 2007 „mit“ beziehungsweise „in ihrem Leben“ vorgestellt. Eine filmische Einzigartigkeit, wahrhaftigem Menschenleben im Kino faszinierend zu begegnen. Ausgiebig wie wunderbar unspektakulär und dennoch intensiv zu erleben. Eingefangen vor und von der unaufdringlichen, sensiblen Kamera. (Ich verweise Interessenten auf die Texte bei den KINO- und HEIMKINO-KRITIKEN sowie bei der Rubrik „Regisseure“ über die beiden Filmemacher.)

Nun ist es wieder passiert. Ebenso faszinierend, spannend, unglaublich nahegehend. Diesmal als Spielfilm, aus den USA. Wo sich der Drehbuch-Autor und Regisseur RICHARD LINKLATER, geboren am 30. Juni 1960 im texanischen Houston, viele Jahre Zeit nahm, um vom wahrhaften Aufwachsen eines Kindes zu erzählen, um am tatsächlichen Erwachsenwerden eines Jungen filmisch teilzuhaben. Als diese Produktion 2002 begann, im Fernsehen wird gerade über den Irak-Krieg der USA berichtet, zählte Richard Linklater bereits zu den interessantesten Filmkünstlern des amerikanischen Kinos. Hatte mit seinen Independent-Filmen „Slacker – Rumtreiber“ (1991) und „Dazed and Confused“ (1993) auf sich aufmerksam gemacht. Danach experimentierten die vielfach preisgekrönte Beziehungsgeschichte „Before Sunrise“ (1995) sowie sein innovativer Animationsfilm „Walking Life“ (2001) nachhaltig gegen die konventionellen Erzählformen des herkömmlichen Kinos. „School of Rock“ war 2003 ein sehr erfolgreicher, origineller Mainstream-Streich „zwischendurch“. Schließlich baute er über die Jahre mit „Before Sunset“ (2004) und zuletzt mit „Before Midnight“ (2012) die Geschichte aus „Before Sunrise“ zu einer Trilogie aus, für die er zahlreiche (Festival-) Preise sowie insgesamt zwei „Oscar“-Nominierungen verbuchen konnte.

Nun also „Boyhood“. „Knabenalter“. Richard Linklater fängt 2002 an. Versammelt eine – fiktive – Family-Crew um sich und beginnt von ihr „zu berichten“. Über Jahre verteilt, mal mit längeren Abständen, mal mit kürzeren. Bis zum Oktober 2013 trafen sich immer dieselben vier Hauptdarsteller-Figuren, um ein weiteres Zeitkapitel aus dieser kleinen Gemeinschaft aufzuschlagen. Dabei stets im vorderen Blick- und Mittelpunkt: Mason (ELLAR COLTRANE). Ein kleiner Junge, der eingangs verträumt im Gras liegt und in den Himmel schaut. Er ist sechs Jahre jung und gerade im ersten Schuljahr, als seine alleinerziehende Mutter Olivia (PATRICIA ARQUETTE) beschließt, noch einmal zu studieren und nach Houston umzuziehen. Was den aufgeweckten Mason und seine zwei Jahre ältere Schwester Samantha (Regisseur Tochter LORELEI LINKLATER) aus dem gewohnten Umfeld wegreißt. Der Vorteil, in Houston taucht der leibliche Vater wieder auf. Ein ungefestigter Musiker-Typ, genannt Mason Senior (ETHAN HAWKE), der den Kontakt zu seinen Kindern wieder herstellen möchte. Als Teilzeit-Dad. Und der seine innere Unsicherheit durch vermeintliche Coolness übertüncht.

Wie ist, was bedeutet überhaupt – Leben. Die Bewegungen, Berührungen, die vielen Blicke, das Aufnehmen von vielen Begebenheiten. Kleinen wie „mächtigen“ Erlebnissen. Sowie: Das (An-)Schauen, das Sehen vom/am Älter-Werden, das sich dabei ständig verändernde Miteinander-Reden. Über die „Folgen“ vom „Werden“: das Erfahren von Scheitern. Das Erleben von Glück. Die vielen taumelnden Gefühle. Beim Hören von toller Musik. Beim ersten Berühren eines Mädchens. Überhaupt – die Pubertät. Der erste Ansatz von Barthaaren. Das erste Bier. Neue Freunde. Der erste Joint. Jeder findet in diesem Film eine Fülle von eigenen Identifizierungsmerkmalen. Erkennungschiffren. Wie ist, was ist: Leben. Wie geht es voran. Wie wird es gefüllt. Warum benehmen sich oft die Erwachsenen so „anders“? Kindisch? Allein älter zu sein, ist doch kein Privileg für Alles-Besserwissen? Mit unbedingter Gehorsams-, Folge-, gar ständiger Unterwerfungspflicht? Gemäßigter betrachtet: Das Leben ist wie ein unaufhaltsamer langer riesiger Fluss. Mal ziemlich mickrig, mal aufbrausend. Immer in Bewegung. Mal empfinden wir ihn als viel zu behäbig, langsam, mal als viel zu schnell. Und weiter geht es. Fluss auf- oder eben abwärts. Gedankenspiele:

„Boyhood“ porträtiert in der Folge Zeit und Entwicklung als Gedankensprünge aus der Sicht des sensiblen Jungen. Mason. Mit diesen ganz normalen „Dingen“, die Existenz ausmachen: die vielen Kleinigkeiten. Die unaufgeregten alltäglichen Begebenheiten. Und Erkenntnisse. In neuen Umgebungen. Weil die überforderte Mutter in ihren Beziehungen kein „glückliches Händchen“ besitzt. Viele Umzüge sind annonciert. Standort- wie Schulwechsel. Neue Freundschaften. Der Wandel der Schwester zur kessen „Göre“. Ein Camping-Ausflug mit dem Vater. Die Ausbrüche des alkoholkranken, prügelnden Stiefvaters. Die Suche nach Sinn, Vernunft und Ruheplätzen. Richard Linklater protokolliert mitreißend Lebens-Details. Gespräche, Streit, der ganze verdammte Austausch. Von Meinungen, Erklärungen, Sichtweisen. Seelischen Wahrnehmungen. „Banalitäten“ häufen sich zu spannenden Details. Auch amüsant pop-kulturell: zum Beispiel bei der „Star Wars“-Diskussion mit dem Vater. Spaß-Kultur überwindet plötzlich Generations-Barrieren.

Linklater erzählt unspektakulär. Was seinen Film so ungeheuer diskret-spannend werden lässt. Er verwickelt seine „Helden“ nie in Pathos, Klischee oder unangenehme Sentimentalitäten. Es ist so, also ist es so. Keine Fallstricke, keine Tricks. Keine Explosionen. Und trotzdem „hoch“ unterhaltend. Mit der Fülle von Leben. Angeblich hat er in den 12 Dreh- und Lebensjahren nur insgesamt 39 Drehtage benötigt, um „Boyhood“ entstehen zu lassen. Es gibt also keine Jahreskapitel oder Epochen-Stationen, sondern menschliche wie gesellschaftliche Zeitsprünge. Mit aktuellen „Signal-Meldungen“. Von „draußen“. Waren es am Beginn des Spielfilms die TV-Nachrichtenbilder aus dem Irak, nehmen wir später die Hysterie um die Veröffentlichung eines Harry Potter-Romans auf, um eine Zeitorientierung zu bekommen. Mal schwärmt die (altkluge) Schwester von Britney Spears, dann „tendiert“ sie zu Lady Gaga. Und wenn wir vom Wahlkampf eines Barack Obama hören, sind wir in der Neuzeit angelangt. Wo die Smartphones auftauchen. Schließlich spottet Mason über den NSA-Skandal. Willkommen im Jetzt.

Nichts ist dermaßen spannend wie das Leben selbst. Oder: Das wahre Leben schreibt die allerbesten Geschichten. Der Film „Boyhood“ liefert den gelungensten Beweis: die einfachen Ermittlungen von Lebensspuren. Absolut auf- wie anregend. Voll von erzählerischer Kraft und empfindsamer Intensität. Was für ein wunderbares Film-Erlebnis! Was für eine emotionale wie kluge Hymne auf das Sein!

Eines Jungen, der uns in jeder Entwicklungsphase seines Lebens ans Herz-Auge wächst. Man kann eigentlich nie genug von ihm, seinem Voran und seinem Kosmos kriegen und (be-)merkt überhaupt nicht die zweieinhalb Kino-Stunden, die wie im Fluge vergehen. Wir sehen, wir empfinden, wir be-denken das „Altern“ des jungen Masons aus Texas und kriegen uns gar nicht mehr ein vor neugierigem, fröhlichem, melancholischem Dauer-Interesse. Was sich vor allem im Nachhinein auswirkt, wenn „Abschied“ angesagt ist. Für die Mutter wie für uns. Und für den nun 18-jährigen Mason die High School winkt. Wie schön wäre es, weiterhin von ihm „zu erfahren“. Noch nie war für Parkett-Zurückbleiber „Leben“ so deutlich. Spürbar. Nachvollziehbar. Deutbarer. Zusammenhängender. Übertragbarer. Warum – eigentlich – müssen wir das Kino überhaupt verlassen??? Ach so ja: das neue iPhone-System (8) winkt ja schon heftig; willkommen wieder … in unserem Alltag (= 5 PÖNIs).

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